Steinitz

Die Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“, zusammengetragen von Wolfgang Steinitz, erschienen 1954 im Ost-Berliner Akademie-Verlag (Band 2 folgte 1962), kurz der „Steinitz“, war so etwas wie die Bibel der Folkszene in beiden deutschen Staaten. Enthalten sind darin fast 300 Lieder, die in den gängigen Volksliedsammlungen fehlten (und bis heute fehlen): Bauernklagen und aufmüpfige Handwerksgesellenlieder, oppositionelle Soldatenlieder, Auswandererlieder, Kampf- und Spottlieder aus Zeit der 1848er Revolution.

„Hier lag gedruckt vor, was des Folkies Seele an Sangbarem tief innen fühlte. Schlichte, kraftvolle Songs voll rührender Klarheit“,

schwärmt Jürgen B. Wolff, einst Chef von Folkländer in Leipzig. Steinitz

„gab der Szene in West und Ost ein verwertbares Repertoire, historisch glänzend aufbereitet, akrobatisch gratwandernd zwischen den ideologischen Fronten“.

Folkbands in der DDR lernten den „Steinitz“ meist über den Umweg von Schallplatten bundesdeutscher Interpreten wie Hannes Wader, Liederjan oder Zupfgeigenhansel kennen. So gut wie jede Band sang damals Lieder aus dem „Steinitz“. Bei Arbeiterfolk waren die Arbeiter-Volkslieder sogar stilprägend. Anders als im Westen gab es im Osten nur selten textliche Aktualisierungen. Damit hätte man womöglich ein Auftrittsverbot riskiert. Stattdessen nutzte man den „doppelten Boden“ etwa der 1848er Lieder zur Kritik an realsozialistischen Ärgernissen, die vom Publikum auch verstanden wurde.

Der große Steinitz - zwei Bände, die es in sich haben (Foto: Sasia Hänchen)

Im „Steinitz“ finden sich oft verschiedene Varianten ein und desselben Liedes. Dadurch eignete er sich hervorragend als „Songbaukasten“. Die Quellenangaben im Buch dienten Wolff außerdem als zuverlässiger

„Kompass durch den Dschungel bürgerlicher Liedsammlungen“.

Seine 1982, aber erst 1987 erschienene gemeinsam mit Erik Kross zusammengestellte „Bibliographie der Literatur zum deutschen Volkslied“ umfasst rund 1200 Titel mit den zugehörigen knapp 16 000 Signaturen in über 20 Bibliotheken und Archiven der DDR.

Die beiden Steinitz-Bände bekamen in der DDR keine Nachauflage. 1979 erschien bei Zweitausendeins in West-Berlin eine Reprintausgabe. Für DDR-Folkies ohne gute Westbeziehungen war sie unerreichbar.